(Auszug aus einem Vortrag zum Thema. Autor & Copyright: Rudolf Söllner)
I: STEIN
STEIN als künstlerisch-therapeutisches Medium hat unverwechselbare Eigenschaften:
– Stein ist einer der ältesten und dauerhaftesten Werkstoffe: was an Ruinen und Skulpturen aus Stein bewundert wird, ist nicht nur die Form, sondern auch die Dauer, im Vergleich zu der ein Menschenleben ein Punkt auf einer Linie ist. Diese Eigenschaft mag dazu beigetragen haben, daß Stein eng mit Mythen verbunden ist. Dafür muß man niemanden sensibilisieren.
– zugleich ist Stein ein für jedermann in der Alltagswelt erreich- und erfahrbares Material: nahezu überall und in so gut wie allen Dimensionen verfügbar, Wind und Wetter überstehend, keiner menschlichen Pflege bedürftig.
– an der Arbeit am Stein ist der ganze Körper beteiligt: der Kopf wird durch Bauch und Hände entlastet. Gelangweiltes Herumwursteln wirft einen sofort auf sich selbst zurück.
– der Zeitaufwand zur Bearbeitung ist relativ gesehen hoch: Schnellschüsse sind nur mit höchstem Krafteinsatz möglich. Taten im Stein werden nur mit sehr lange durchgehaltenem destruktivem Einsatz negativ sanktioniert, aber schon kleinste Arbeitsschritte werden positiv erlebt: die Wahrnehmung des Schaffenden verfeinert sich in jeder Stunde Arbeit am Stein mit dem Erlernen eigener Langsamkeit.
– jede Arbeit am Stein ist unwiderruflich: Weggeschlagen ist Weggeschlagen, Entscheidung fällt auf Entscheidung und Entscheidungen-Fällen wird als positiver Prozeß erfahren bzw. erobert.
– durch sein Gewicht ist Stein ein körperlich gleichwertiges Gegenüber: ein Stück in den Ausmaßen 60/40/30cm wiegt soviel wie ein Mensch und bleibt durch normale Bearbeitungsschläge unverrückbar. Ein zuverlässiger ‚Gegner‘ kann so durch sein Verbleiben zum Freund werden. Ein Kursteilnehmer hat seine Erfahrung so beschrieben: ‚Der Stein stellt sich mir zu Gebrauch und Mißbrauch gleichermassen ganz zur Verfügung.‘.
– Papier kann man in spontaner Gemütsbewegung zerreissen, ein Bild oder eine Arbeit aus Ton in Sekunden verändern oder gar zerstören: beides gegebenenfalls wichtige expressiv-destruktive Ausdrucksweisen. Stein bereichert die klassischen Materialien der Kreativität um eine bedeutende Qualität: als einer der wenigen Stoffe, der die Befindlichkeit des Schaffenden dauernd und direkt auch auf körperlicher Ebene widerspiegelt und jeder Art spontaner Zerstörung enormen Widerstand leistet. Stein-Hauen macht Zerstörung und Aggressivität als Teil verändernder eigener Arbeit erfahrbar.
– Die meisten Teilnehmer genießen schon nach kürzester Zeit das Hauen an sich. Das starrste aller Materialien hilft mit seiner je nach Teilnehmerbefindlichkeit mehr oder weniger wechselhaften Widerspenstigkeit so am meisten, wieder in den eigenen Fluß zu kommen.
– viele Teilnehmer, die aus einer angelernten Scheu der Kunst ablehnend gegenüberstehen (die meisten begründen dies mit ‚habe ich schon einmal gemacht: kein Talent‘, ‚kann ich nicht‘, ‚ganz schwer‘, ‚mir fällt nichts ein‘), haben weniger Schwierigkeiten, sich auf Stein einzulassen, weil zuerst die Konzentration auf die handwerklichen Fähigkeiten überwiegt. Und das handwerkliche Erfolgserlebnis stellt sich überraschenderweise mit den ersten Schlägen auf den Stein ein. Zudem verbinden die meisten mit der Steinbildhauerei kaum Vorstellungen und es sind ihnen keine sie eher lähmenden Vorbilder (Picasso, Dürer, Röhrender Hirsch) vermittelt worden: selbst von Michelangelo zitieren die, die von ihm gehört haben, so gut wie immer nur den Spruch vom Weg-Hauen des Überflüssigen. Die Teilnehmer können also in unbekanntem, offenem Terrain wirken.
– Stein stellt in seiner Wortlosigkeit und Beständigkeit mehr als alle anderen Materialien die Eigenschaften einer selbständigen Persönlichkeit dar. Damit steht er für vielfältigste Projektions- und Erfahrungsmöglichkeiten zur Verfügung, ohne daß der Teilnehmer in seinem Handeln von Rücksichten und Ängsten realen Personen gegenüber beeinträchtigt sein muß, während er zugleich jede seiner Handlungen als auf ihn selbst direkt Zurückwirkende erleben kann.
– der starke Materialcharakter, das unüberseh- und -gehbare Eigenwesen des Steins wirkt sich unpersönlich-kooperativ im Gestaltungsprozeß aus und befreit den Schaffenden vom Druck, fremdbestimmten Vorstellungen von Kunst, Kreativität und Zielerreichung zu folgen: Gegenwart statt Aufgabenerfüllung.
II: EINIGE GEDANKEN ZUR FUNKTION DER KURSLEITERIN/DES KURSLEITERS
Um dem starken Materialcharakter des Steines zu entsprechen und sein spezifisches Potential als künstlerisches Mittel auszuschöpfen, sind von der Kursleiterin/dem Kursleiter spezifische Vorgehensweisen in der Vermittlung der Arbeit mit Stein gefordert – sie bestehen hauptsächlich darin, zugunsten einer Mittler-Funktion Tendenzen zum Lehren zurückzunehmen: Stein und Mensch können auf ihre je eigene Art und Weise zueinander finden.
Dazu gehört, daß die Kursteilnehmer vorab nicht inhaltlich und formal von der Kursleiterin/dem Kursleiter beschränkt werden: der genauso kreative wie aggressive Dialog mit dem Stein erfordert in erster Linie genügend Raum für die Hauptakteure des kreativen Schauspieles: den Schaffenden und den Stein. Zu vermittelnde Wahrheiten gibt es da für die Kursleiterin/den Kursleiter keine: inhaltlich soll der Kursteilnehmer darin unterstützt werden, sich spontan für das als eigenes gewählte Thema weiterhin und jeden Moment von neuem zu entscheiden, formal soll er dabei unterstützt werden, zusammen mit dem Material möglichst ‚authentische‘, d.h. Material- und Individuum-immanente Lösungen zu (er)finden bzw. zu erfahren. Voraussetzungslosigkeit führt zu mehr Authentizität.
Steinbildhauerei ist 1 Art unbewußter Selbsterfahrung durch den ungelernten Umgang mit einem fremden Material in ungewohnter Umgebung. Die Kursleiterin/der Kursleiter läßt den Teilnehmer da nicht alleine, wo es darum geht, weiterzumachen. Die Aufgabe der Kursleiterin/des Kursleiters ist nicht, Professionalität zu vermitteln, sondern Freiheit und Risikobereitschaft zu bestätigen. Nicht der Teilnehmer soll seine Kräfte darauf verwenden, die mehr oder weniger verschleierten Vorlieben der Kursleiterin/des Kursleiters herauszufinden und ihnen zu folgen, sondern die Kursleiterin/der Kursleiter seine Kräfte, sich in Potential und Ausdrucksbedarf des Teilnehmers einzufinden.
Technische Kompetenz der Kursleiterin/des Kursleiters ist dabei insofern wichtig: je grösser der Horizont des Leitenden in den Möglichkeiten der Steinbearbeitung, je grösser der Erfahrungshorizont im Absehen-können von Ursache-Wirkung verschiedener Vorgehens- und Bearbeitungsweisen, desto mehr Möglichkeiten können den Kursteilnehmern eröffnet werden. Dabei muss die Kursleiterin/der Kursleiter seine Fähigkeit erweitern, sich von Teilnehmer-Lösungen überraschen zu lassen.
Stein, der in unserer Vorstellung seiner Starrheit, Unbeliebigkeit und Irreversibilität scheinbar viel Planung und Disziplin erfordert, ermöglicht durch seinen Widerstand die langsame, nachhaltige Erfahrung des Unerwarteten in uns selbst.
Immer wieder kann es nötig sein, den Teilnehmer vom Druck sich aus Konditionierung einstellender fremdbestimmter Zielvorstellungen zu befreien.
Die Kursleiterin/der Kursleiter ist einer dienenden Funktion: ähnlich dem Butler bei einem Bankett, sorgt die Leitung eines Steinbildhauerworkshops unter wenig Ansehen ihrer eigenen Person und ihre eigenen Vorstellungen zurücknehmend im Hintergrund für das richtige Setting: den gedeckten Tisch, die richtige Zimmertemperatur, Besteck und Stühle an der richtigen Stelle, die Serviette, das passende Geschirr und einige Gewürze.
Es hat sich sehr bewährt, daß das Steinhauen sozusagen einen deutungsfreien Raum innerhalb der jeweiligen Klinik eröffnet. Viele Patienten nehmen diesen ‚Ausgleich‘ begeistert wahr und können sich dadurch wiederum entspannter auf andere, deutungsbezogene Therapieangebote einlassen.
Die durch die Arbeit am Stein immer wieder aktualisierte ‚Befreiung‘ vom gesellschaftlich normierten Kontext verführt den Teilnehmer zu sich selbst. Teilnehmerin: „Ich kam immer mit einem klaren Kopf aus der Steinarbeit heraus. Die Knoten im Kopf waren weg. Hier habe ich verstanden, was das heißt: ‚der Weg ist das Ziel‘.“